Die Geschichte des Afro-Cosmic: Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart
Inhaltsverzeichnis
Die Anfänge: Norditalien in den 1970er Jahren
Die Geschichte des Afro-Cosmic beginnt in den späten 1970er Jahren an der italienischen Adriaküste und rund um den Gardasee. In einer Zeit, als Disco weltweit seinen Höhepunkt erreichte, entwickelte sich in Norditalien eine einzigartige musikalische Bewegung, die später als "Afro" oder "Cosmic" bekannt werden sollte. Diese Bewegung entstand nicht in den großen Metropolen, sondern in den Urlaubsregionen Italiens, wo internationale Einflüsse auf lokale DJ-Kultur trafen.
Baia degli Angeli: Die Geburtsstätte
Der Ursprung des Afro-Cosmic wird oft mit dem legendären Club "Baia degli Angeli" in Verbindung gebracht, der 1975 in Gabicce Mare nahe Rimini eröffnete. Dieser Club revolutionierte die italienische Clubszene durch sein futuristisches Design – alles war in Weiß gehalten, was die Lichteffekte besonders zur Geltung brachte. Die amerikanischen DJs Bob Day und Tom Season brachten direkt aus New York die neuesten Disco-Platten und innovative Mixing-Techniken mit nach Italien.
"Es war ein wunderschöner Club. Alles war weiß, während in anderen Clubs alles dunkel war. Wegen dieser Gestaltung waren die Scheinwerfer sehr effektiv; wenn grünes Licht eingeschaltet wurde, färbte sich der ganze Club grün." - Daniele Baldelli
Die amerikanischen DJs führten in Italien erstmals das nahtlose Mixing ein und verwendeten dafür spezielle Techniken wie das Entfernen der Gummimatte vom Plattenteller und deren Ersetzung durch eine Single als Slipmat. Diese Innovation beeindruckte die lokalen DJs nachhaltig und veränderte ihre Herangehensweise ans Auflegen grundlegend.
Cosmic Club: Die Geburt eines Sounds
Der entscheidende Moment für die Entstehung des Afro-Cosmic-Sounds kam 1979, als der "Cosmic" Club am Gardasee in Lazise eröffnete. Hier wurde Daniele Baldelli zum Resident-DJ und entwickelte einen völlig neuen Stil des Auflegens. Das DJ-Pult des Clubs war wie ein Raumschiffcockpit gestaltet, was die futuristische Ästhetik des Sounds unterstrich.
Baldelli begann, Platten mit falscher Geschwindigkeit zu spielen – afrikanische Percussion bei 33 RPM statt 45 RPM, oder elektronische Stücke bei 45 RPM statt 33 RPM. Er mischte Genres, die normalerweise nicht zusammengehörten: brasilianische Batucada, traditionelle afrikanische Musik, indische Ragas, Funk, elektronische Musik von Künstlern wie Kraftwerk, Reggae und Dub. Diese eklektische Mischung, kombiniert mit seiner Technik des Pitch-Controllings und extremem EQing, schuf einen hypnotischen, tranceartigen Sound, der die Tanzfläche in seinen Bann zog.
Typhoon und die Afro-Bewegung
Parallel zur Cosmic-Bewegung am Gardasee entwickelte sich in der Provinz Brescia eine verwandte, aber eigenständige Strömung. Im Club "Typhoon" in Gambara wurde Beppe Loda ab 1980 Resident-DJ und prägte den Begriff "Afro" für seinen Musikstil. Loda legte besonderen Wert auf afrikanische Rhythmen und Percussion, kombiniert mit elektronischen Elementen.
"Ich begann, meine Mixtapes als 'Afro' zu bezeichnen, weil ich viel afrikanische und brasilianische Musik spielte. Es war ein Etikett, das ich benutzte, um meinen Stil zu beschreiben, der sich von dem unterschied, was andere DJs spielten." - Beppe Loda
Seine legendäre "Afro"-Mixtape-Serie, die zwischen 1982 und 1984 entstand, wurde zu einem wichtigen Dokument dieser Bewegung und zirkulierte weit über die Grenzen Italiens hinaus.
Die goldene Ära: 1980er Jahre
Melody Mecca und die Rimini-Szene
1980 eröffnete in Rimini der Club "Melody Mecca", der schnell zu einem weiteren Zentrum der Afro-Cosmic-Bewegung wurde. Die Resident-DJs Pery und Meo entwickelten hier ihren eigenen Stil, der Elemente des Cosmic mit mehr melodischen Komponenten verband. Der Club wurde zur "Mecca der Melodie", wie sein Name schon andeutet.
Melody Mecca war bekannt für seine thematischen Abende wie "Afro Story" und "Buliron". Die Mixtapes von DJ Pery, insbesondere seine Nummer 73 und 88, wurden zu Klassikern der Szene und zeigen die Entwicklung des Sounds in den frühen 1980er Jahren. Auch DJ Meo prägte mit seinen Mixes, wie dem legendären Live-Mix vom 26.02.1994, die Szene nachhaltig.
Chicago in Baricella
Ein weiterer wichtiger Club dieser Ära war das "Chicago" in Baricella bei Bologna. Hier prägten die DJs Ebreo und Spranga einen Stil, der stark von afrikanischen Rhythmen beeinflusst war, aber auch elektronische Elemente integrierte. Ihre Sets aus den frühen 1980er Jahren, die auf Kassetten aufgenommen und verbreitet wurden, dokumentieren die Vielfalt der damaligen Szene.
Weitere wichtige Clubs
Neben den bereits genannten Hauptzentren der Afro-Cosmic-Bewegung gab es weitere wichtige Clubs, die zur Verbreitung und Entwicklung des Sounds beitrugen. Der "Spleen" Club war bekannt für seine experimentelle Ausrichtung und bot eine Plattform für DJs, die die Grenzen des Genres erweitern wollten.
Der "Nautilus" wurde nicht nur als Club, sondern auch durch seine einflussreichen Mixtapes bekannt. Diese Kassetten zirkulierten in der Szene und inspirierten viele DJs, darunter auch DJ Merlin, der 1989 durch einen "Nautilus"-Mixtape den Cosmic-Sound entdeckte und später von 1993 bis 2002 als Resident-DJ im boomboom club in München tätig war.
Der "Cotton Club" entwickelte sich in den späteren 1980er und frühen 1990er Jahren zu einem wichtigen Veranstaltungsort für Afro-Cosmic-Events. Besonders DJ Yano prägte hier mit seinen Sets die Szene.
Die Pioniere: Die einflussreichsten DJs der Afro-Cosmic-Szene
Daniele Baldelli: Der Cosmic-Meister
Daniele Baldelli gilt als einer der wichtigsten Pioniere des Afro-Cosmic-Sounds. Seine DJ-Karriere begann 1969 im Club Tana in Cattolica, wo er zunächst hauptsächlich Rhythm and Blues, Soul und Rock spielte. Doch seine prägendste Zeit begann 1979, als er Resident-DJ im Cosmic Club am Gardasee wurde.
Baldelli revolutionierte das DJing durch seine unkonventionellen Techniken. Er spielte Platten mit falscher Geschwindigkeit, nutzte extreme EQ-Einstellungen und mischte Genres, die normalerweise nicht zusammengehörten. Seine Sets kombinierten afrikanische Percussion, elektronische Musik, Funk, Reggae und experimentelle Sounds zu einem hypnotischen Ganzen.
Claudio Tosi-Brandi (TBC): Der zweite Cosmic-Pionier
Claudio Tosi-Brandi, besser bekannt unter seinem Kürzel TBC, war neben Baldelli der zweite wichtige DJ im Cosmic Club. Ursprünglich aus Riccione stammend, entwickelte er einen eigenen Stil, der sich durch besonders experimentelle Elemente auszeichnete.
TBC und Baldelli teilten sich die Residency im Cosmic Club und prägten gemeinsam den Sound, der später als "Cosmic" bekannt wurde. Ihre gemeinsamen Aufnahmen, wie die "Cosmic 011" von 1980, dokumentieren die frühe Phase dieser musikalischen Bewegung.
Beppe Loda: Der Afro-Pionier
Giuseppe "Beppe" Loda, geboren 1957, wurde ab 1980 Resident-DJ im Club Typhoon in Gambara und prägte maßgeblich den Begriff "Afro" für seinen Musikstil. Im Gegensatz zum eher elektronisch orientierten Cosmic-Sound von Baldelli und TBC legte Loda besonderen Wert auf afrikanische und brasilianische Rhythmen.
Seine "Afro"-Mixtape-Serie aus den Jahren 1982-1984 wurde zu einem Schlüsseldokument dieser Bewegung. Loda war bekannt für seine akribische Plattensuche und seinen eklektischen Musikgeschmack. Er spielte regelmäßig vor bis zu 7.000 Menschen im Typhoon und anderen Venues und trug maßgeblich zur Verbreitung des Afro-Sounds bei.
Weitere Schlüsselfiguren
DJ Yano gehört zu den einflussreichsten DJs der Cosmic-Szene. Seine "Cosmic Mix"-Serie, insbesondere "Cosmic Mix 075 - Italy call Africa", dokumentiert seinen einzigartigen Stil. Yano spielte in verschiedenen Clubs, darunter im Cotton Club, und veröffentlichte zahlreiche Compilations wie "Afro Project Vol. 1".
Fabrizio Fattori begann seine DJ-Karriere 1976 im Papillon Club und entwickelte einen Stil, der stark von afrikanischen und brasilianischen Rhythmen geprägt war. Seine Live-Sets im Arlecchino Club und anderen Venues machten ihn zu einer wichtigen Figur der Szene.
Pery und Meo, die Resident-DJs des Melody Mecca in Rimini, entwickelten einen Stil, der Elemente des Cosmic mit melodischeren Komponenten verband. Ihre Sets und Mixtapes wurden zu Klassikern der Szene.
Die Musikentdeckung und Vertriebswege
Disco Più: Das Herz der Szene
Disco Più in Rimini, gegründet von Gianni Zuffa im Jahr 1979, war weit mehr als nur ein Plattenladen – es war das pulsierende Herz der Afro-Cosmic-Szene. Als spezialisierter Plattenladen für DJs importierte Zuffa Musik aus aller Welt und schuf damit eine zentrale Anlaufstelle für DJs, die nach neuen und exotischen Sounds suchten.
"Ich hatte Kontakte zu Vertrieben und Händlern in den USA, Großbritannien, Deutschland und anderen Ländern. Ich bestellte Platten, die niemand sonst in Italien hatte. Die DJs kamen zu mir, um Musik zu finden, die ihren Sound einzigartig machte." - Gianni Zuffa
Disco Più wurde zum Treffpunkt für die Protagonisten der Szene. Hier tauschten DJs wie Baldelli, Loda, TBC, Ebreo und andere Informationen aus, entdeckten neue Musik und diskutierten über Trends. Der Laden vertrieb auch die Mixtapes der bekanntesten DJs, was zur Verbreitung des Afro-Cosmic-Sounds über die Grenzen der Clubszene hinaus beitrug.
Die Importwege: Wie neue Musik nach Italien kam
Die Entdeckung neuer Musik war für die Afro-Cosmic-Szene von zentraler Bedeutung. Die DJs waren ständig auf der Suche nach exotischen, unbekannten Sounds, die ihren Sets eine besondere Note verleihen konnten. Dabei spielten verschiedene Importwege eine wichtige Rolle.
Einige DJs reisten regelmäßig ins Ausland, um in Plattenläden in London, New York oder Berlin nach neuen Schätzen zu suchen. Andere nutzten Kontakte zu ausländischen DJs oder Musikern, um an seltene Platten zu kommen. Auch Vertriebe und spezialisierte Importeure wie Disco Più waren entscheidend für den Zugang zu internationaler Musik.
Besonders gefragt waren afrikanische Percussion-Platten, brasilianische Batucada, indische Ragas, aber auch elektronische Musik aus Deutschland, Funk aus den USA und Reggae aus Jamaika. Die DJs suchten nicht nach bestimmten Genres, sondern nach besonderen Klängen, Rhythmen und Stimmungen, die in ihre Sets passten.
Die Rolle der Mixtapes
Mixtapes spielten eine entscheidende Rolle für die Verbreitung und Dokumentation des Afro-Cosmic-Sounds. Die DJs nahmen ihre Sets auf Kassetten auf, die dann unter Fans und anderen DJs zirkulierten. Diese Aufnahmen wurden zu wichtigen Dokumenten der Szene und inspirierten neue Generationen von DJs.
Besonders einflussreich waren Baldelli's Cosmic-Mixtapes, Loda's Afro-Serie (1982-1984), die Aufnahmen von Ebreo und Spranga aus dem Chicago Club, Pery's und Meo's Melody Mecca-Tapes sowie die Nautilus-Mixtapes, die später auch DJ Merlin in Deutschland inspirierten.
Die Entwicklung zu modernen Genres
Die 1990er Jahre: Transformation und Internationalisierung
In den 1990er Jahren begann sich der Afro-Cosmic-Sound zu wandeln und international zu verbreiten. Die ursprüngliche Szene in Norditalien blieb zwar bestehen, aber der Sound wurde zunehmend von neuen Einflüssen geprägt und fand Anhänger in anderen Ländern.
Clubs wie das Cotton Club veranstalteten in den 1990er Jahren regelmäßig "Cosmic Cotton Club"-Events, bei denen der klassische Sound mit neueren Elementen vermischt wurde. DJ Yano dokumentierte diese Transformation in seinen Mixtapes wie "C 127 (Festa BahYano)" oder "C 126 (Cotton Club)" aus dem Jahr 1994.
Die 2000er Jahre: Revival und Neuinterpretation
Ab den frühen 2000er Jahren erlebte der Afro-Cosmic-Sound ein Revival, als eine neue Generation von DJs und Produzenten die Sounds der 1970er und 1980er Jahre wiederentdeckte und neu interpretierte. Labels wie Four Flies Records begannen, bisher unveröffentlichte "Afro-cosmic funk"-Aufnahmen aus italienischen Soundtracks und Library-Musik zu veröffentlichen.
Gleichzeitig blieben viele der ursprünglichen Protagonisten aktiv. Daniele Baldelli veröffentlichte 2007 die Compilation "Cosmic - The Original", die seinen klassischen Sound dokumentierte. Beppe Loda tourte international und brachte den Afro-Sound einem neuen Publikum näher.
Die Verbindung zu Organic House und modernen Ablegern
In den letzten Jahren hat sich eine deutliche Verbindung zwischen dem klassischen Afro-Cosmic-Sound und modernen Genres wie Organic House, Afro House und verwandten Stilen entwickelt. Diese neuen Genres teilen viele Elemente mit dem ursprünglichen Afro-Cosmic: die Verwendung ethnischer Percussion, die Vermischung verschiedener kultureller Einflüsse und der Fokus auf hypnotische, tanzbare Rhythmen.
Organic House, ein relativ junges Genre, zeichnet sich durch natürliche, organische Klänge, ethnische Percussion und melodische Elemente aus – alles Charakteristika, die auch den Afro-Cosmic-Sound prägten.
Die digitale Ära und globale Vernetzung
Die Digitalisierung hat die Verbreitung und Zugänglichkeit des Afro-Cosmic-Sounds grundlegend verändert. Plattformen wie SoundCloud, YouTube und Bandcamp ermöglichen es Fans weltweit, historische Mixtapes und neue Produktionen zu entdecken.
Kanäle wie "Afro Mix Tv" auf YouTube dokumentieren die Geschichte des Genres mit Uploads klassischer Sets von DJs wie Fabrizio Fattori, Daniele Baldelli, Yano und anderen. Diese digitale Vernetzung hat dazu beigetragen, dass der Afro-Cosmic-Sound heute globaler und zugänglicher ist als je zuvor, während er gleichzeitig seine italienischen Wurzeln bewahrt.
Fazit: Das Vermächtnis des Afro-Cosmic
Die Geschichte des Afro-Cosmic ist ein faszinierendes Kapitel der Musikgeschichte, das zeigt, wie eine lokale Szene in Norditalien einen einzigartigen Sound entwickelte, der bis heute nachwirkt. Von den experimentellen Anfängen in Clubs wie Baia degli Angeli und Cosmic über die Blütezeit in Melody Mecca, Chicago und anderen Venues bis hin zu modernen Interpretationen in Genres wie Organic House – der Afro-Cosmic-Sound hat sich ständig weiterentwickelt und neu erfunden.
Die Pioniere dieser Bewegung – Daniele Baldelli, Claudio Tosi-Brandi, Beppe Loda, Ebreo, Spranga, Pery, Meo, Yano, Fattori und viele andere – haben mit ihrer Experimentierfreude und ihrem eklektischen Musikgeschmack die Grenzen des DJings erweitert und einen Sound geschaffen, der bis heute inspiriert.
Plattenläden wie Disco Più spielten eine entscheidende Rolle als Knotenpunkte der Szene, wo Musik entdeckt, ausgetauscht und verbreitet wurde. Die Mixtapes, die in der Szene zirkulierten, wurden zu wichtigen Dokumenten dieser einzigartigen Musikkultur.
Heute lebt der Afro-Cosmic-Sound in verschiedenen Formen weiter – in Revival-Events, die die ursprünglichen Protagonisten zusammenbringen, in modernen Genres wie Organic House und Afro House, die viele Elemente des ursprünglichen Sounds aufgreifen, und in einer globalen Community von Fans und DJs, die die Geschichte und das Erbe dieser faszinierenden Musikbewegung bewahren und weiterentwickeln.
Die fast 50-jährige Geschichte des Afro-Cosmic zeigt eindrucksvoll, wie eine Musikrichtung sich an den Zeitgeist anpassen und gleichzeitig ihre Wurzeln bewahren kann – ein lebendiges Beispiel für die kontinuierliche Evolution der Clubkultur und elektronischen Musik.